Grenzsicherung
Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können
Von Herfried Münkler vom 20. Februar 2016 in DIE ZEIT Nr. 7/2016,
Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk kritisieren die Regierung und verlangen eine rigide Grenzsicherung – das zeigt, wie unbedarft die beiden sind.
Selbstverständlich lässt sich die Flüchtlingskrise als humanitäre Herausforderung der Europäer und vor allem der Deutschen betrachten. Dann geht es um Solidarität, Mitgefühl, vielleicht auch Barmherzigkeit sowie um die völkerrechtliche Selbstbindung des Staates. Man kann sie freilich auch als ein logistisches Problem betrachten; dann stehen die Unterbringungsprobleme der Städte und Landkreise im Mittelpunkt, dann geht es um Ressourcen und Kosten, Wohnungsbauprogramme und Sprachkurse. Hier zeigt sich, dass Deutschland auf diese vorhersehbare Entwicklung organisatorisch schlecht vorbereitet war, von der Registrierung der Flüchtlinge bis zur Bearbeitung der Asylanträge. Die Debatte darüber wird selten geführt; in der Regel bleibt sie auf skandalöse Zustände wie die am Berliner Lageso (Landesamt für Gesundheit und Soziales in Moabit) begrenzt.
Man kann die Flüchtlingskrise aber auch als eine politisch-strategische Herausforderung begreifen, und dann geht es um die Frage, ob es jenseits humanitärer Gesichtspunkte und rechtlicher Selbstbindungen Gründe dafür gab, die deutschen Grenzen für den Flüchtlingsstrom auf der Balkanroute zu öffnen, und darum, zu debattieren, worin die "Kosten" für das von einigen Philosophen jetzt eifrig propagierte Schließen der Grenzen bestanden hätten und bestehen würden. Diese Debatte ist in Deutschland so gut wie nicht geführt worden, und das ist einer der Gründe dafür, warum nun, nach einer Phase der humanitären Euphorie und deren Frustrierung durch die Kölner Silvesternacht, das Schließen der Grenze als eine der Regierung ohne Weiteres verfügbare Option behauptet werden kann. Aus Unbedachtheit, Sentimentalität oder gar, wie Gertrud Höhler (deutsche Literaturwissenschaftlerin, Publizistin und Unternehmensberaterin) jetzt behauptete, sinistren (unheilvollen) Absichten gegen die deutsche Identität sei sie nicht gezogen worden. Auch Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski, die zeitweiligen philosophischen Lehrmeister der Republik, reden über ein leichtfertiges "Fluten" des Landes und eine aus Staatsvergessenheit erwachsene Politik der "schwachen Membrane", als müsse die Regierung nur ihren Ratschlägen einer rigiden Grenzsicherung folgen – und schon werde alles wieder gut.
Unterkomplexe Antworten haben ihre eigene Suggestion. Dass sie nun aber auch von denen lanciert werden, die sich über Jahre als Gralshüter realer Komplexität und Repräsentanten komplexen Denkens in Szene gesetzt haben, zeigt einen gravierenden Mangel an strategischer Reflexivität in der politischen Kultur dieses Landes. Hier wird so getan, als könne man in Europa wieder zu einer Ordnung zurückkehren, in der Grenzen und Souveränität die Leitvorstellungen des Politischen waren. Man kann das selbstverständlich fordern, sollte aber wissen, worauf derlei hinauslaufen dürfte. Ihre jüngsten Einlassungen zeigen, dass diese Vor-Denker viel über das 20. Jahrhundert geredet haben, dass ihre Neigung zu einem Denken in Metaphern sie aber daran gehindert hat, analytisch zu durchdringen, worüber sie redeten.
Das wäre zu verkraften, wenn diese Art des Denkens nicht auf das Kommunizieren der Politik und ihrer Entscheidungen übergegriffen hätte. Der Gestus der Alternativlosigkeit ist auf beiden Seiten anzutreffen. Sonst nämlich wäre über die Dilemmata solcher Entscheidungen und die mit ihnen je verbundenen Kosten diskutiert worden. Im Prinzip lief die Entscheidung für durchlässige Grenzen nämlich darauf hinaus, Zeit zu kaufen, um die Ursachen der Krise und deren weitere Entwicklung zu erfassen und europäische Lösungen für ein Problem zu erarbeiten, das eine Herausforderung Europas für die nächsten Jahrzehnte darstellt. Selbstverständlich war schon im vergangenen Sommer klar, dass Deutschland nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen kann; vielmehr sollte es, so das Kalkül der Regierung, gemeinsam mit Österreich und Schweden, die inzwischen ausgestiegen sind, als eine Art "Überlaufbecken" dienen, das die Zeit verschaffen sollte, eine europäische Lösung herbeizuführen: faire Verteilung in Europa, bessere Sicherung der europäischen Außengrenzen, Stabilisierung der Peripherie. Das hatte wenig mit Romantik oder Gefühlsduselei zu tun. Die demonstrative Ausrufung der "Willkommenskultur" war eine zivilgesellschaftliche Reaktion auf die Brandanschläge gegen Asylantenwohnheime. Sie gehörte zum Kampf um das Selbstverständnis und Erscheinungsbild Deutschlands und ist nicht zu verwechseln mit dem von der Regierung verfolgten Projekt.
Mindestens drei Aspekte spielten eine Rolle bei der Berliner Entscheidung, die europäische Herausforderung durch die Flüchtlinge zunächst allein anzugehen: zu verhindern, dass eine Politik der nationalen Grenzregime auf den Anfang vom Ende des Schengenraums und damit der EU als Ganzes hinauslaufen könnte; dafür zu sorgen, dass es auf der Balkanroute zu keinem Flüchtlingsstau kam, der zum Zusammenbruch der dortigen Staaten führen würde; zu vermeiden, dass Deutschland als derjenige dastand, der aus nationalem Egoismus heraus beides zu verantworten hatte. Die unmittelbaren "Kosten" einer solchen Entscheidung waren klar: dass man dadurch den Druck auf die nicht an der Balkanroute liegenden Länder verminderte, sich an einer gemeinsamen Lösung zu beteiligen, und dass man bei Teilen der deutschen Wahlbevölkerung auf Ablehnung bis Widerstand stoßen würde. Die maßgeblichen Politiker in Berlin waren zu Beginn der 1990er Jahre bereits aktiv und dürften sich an die Stimmung angesichts des damaligen Flüchtlingszustromes erinnert haben. Dennoch entschied man sich dafür, die deutschen Grenzen offen zu halten und das Gebiet der Bundesrepublik als Raum zum Gewinn von Zeit zu nutzen. Der Tausch Raum gegen Zeit ist ein Grundelement strategischen Denkens.
Auch wenn sich längst gezeigt hat, dass der Weg zu einer europäischen Lösung sehr viel schwieriger ist, als die Regierung im Spätsommer erwartet hat, heißt das noch lange nicht, dass retrospektiv die damalige Entscheidung falsch gewesen wäre. Bei allen (unberechtigten) Vorwürfen, die jetzt von einigen europäischen Regierungen gegen die Bundesregierung erhoben werden, sie habe das Problem der Flüchtlinge überhaupt erst erzeugt, ist leicht vorstellbar, wie dieselben Regierungen Berlin die Verantwortung zugeschoben hätten, wenn infolge einer deutschen Entscheidung der Dominoeffekt nationaler Grenzschließungen in Gang gekommen wäre. Deutschland ist nun einmal ein durch Verweis auf seine Geschichte verwundbarer Akteur; das hat sich in den antideutschen Polemiken bei der fiskalischen Rettung Griechenlands gezeigt. Es ist nicht auszuschließen, dass die EU unter dem Druck der Flüchtlingskrise zerbrechen wird, aber es ist ein Essential der deutschen Politik, dass dies erst eintritt, nachdem man in Berlin alles versucht hat, das zu verhindern. Die Regierungen, die den deutschen Beitrag zur Rettung des Europaprojekts jetzt diskreditieren, verfolgen dabei nationale Interessen: Sie wollen hernach unschuldig dastehen. Einige deutsche Intellektuelle spielen ihnen dabei unbedacht in die Hände.
Deutschland hat wirtschaftlich von der Schaffung eines gemeinsamen Marktes in Europa ungemein profitiert, und es war und ist der Hauptnutznießer der Einigung des Kontinents. Erste Schätzungen besagen, dass die unmittelbaren Kosten nationaler Grenzregime für jedes größere EU-Land 10 Milliarden Euro pro Jahr betragen dürften. Das ist ein geringer Betrag, verglichen mit den zu erwartenden Wohlstandseinbußen, die mittelfristig aus dem dann unvermeidlichen Wiederaufleben eines wirtschaftlichen Protektionismus erwachsen würden. Die Gesamtkosten, die jetzt für die Unterbringung, Versorgung und Ertüchtigung der ins Land gekommenen Migranten anfallen, dürften ein Bruchteil dessen sein, was der Zusammenbruch des europäischen Marktes kostet – zumal dann, wenn in den europäischen Polemiken Deutschland als "der Schuldige" dafür dargestellt wird. Daran wird kein Essay Peter Sloterdijks etwas ändern.
Vor allem muss man sich vor Augen halten, welche Folgen ein Rückstau der Flüchtlinge auf der Balkanroute haben würde beziehungsweise im Herbst 2015 gehabt hätte. Gehen wir davon aus, dass nach einem deutschen Einreisestopp Ungarn und Kroatien ihre Grenzen geschlossen und die Flüchtlingsbewegung – mit welchen Mitteln auch immer – gestoppt hätten. Bosnien-Herzegowina, Serbien, Mazedonien, Albanien, das Kosovo und natürlich Griechenland sind schwache Staaten, die administrativ mit diesem Flüchtlingsstau überfordert wären. Das labile ethnische und konfessionelle Gleichgewicht in diesen Ländern, das durch die Anwesenheit der Flüchtlinge massiv verändert worden wäre, kommt noch hinzu. Ein Rückblick auf die Gewaltexzesse beim Zerfall Jugoslawiens lässt ahnen, womit dann zu rechnen ist. Vermutlich würden infolgedessen zusätzliche Flüchtlingsströme entstehen, die auch mit "harten Membranen" im Sinne Sloterdijks auf ihrem Weg nach Deutschland nicht zu stoppen wären. Zugegeben: Das sind Risikoszenarien und keine tatsächlichen Entwicklungen. Und es kann sein, dass der Zeitkauf der Bundesregierung sie nur verzögert hat, aber nicht verhindern wird. Dass die Grenzschließer unter den Intellektuellen diese Probleme nicht in Betracht ziehen, zeigt die strategische Unbedarftheit ihres Dahergeredes.
Herfried Münkler
Politikwissenschaftler
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Kommentar von Ulrich H. Rose am 01.09.2018
Die Geschehnisse der letzten 2 1/2 Jahre im Zusammenhang mit dem Erstarken der AfD geben Peter Sloterdijk scheinbar Recht, dass eine Grenzschließung damals (2015) richtig gewesen wäre.
Nur das ist zu einfältig gedacht und berücksichtigt nicht, dass es dazu nur Mutmaßungen geben kann, die letztendlich hypothetisch (ungesichert) sind und deshalb als Mutmaßungen abgetan werden müssen.
Das Thema der Flüchtlingsströme 2015 - nur alleine die Wirklichkeit betrachtet - ist so komplex, dass es hierzu für gute, rechte Rhetoriker immer wieder Angriffsflächen gibt, die für ihre Inselgesinnungen nutzbar sind und auch, wie wir erlebt haben, genutzt wurden. Ein Beispiel: Der Ton im Bundestag wurde durch die AfD aggressiver und zieht langsam seine Kreise im Bundestag und leider zusehends in der Bevölkerung. Siehe dazu die rechten Aufmärsche in Chemnitz gegen 3.15 Uhr in der Brückenstraße am 26.08.2018 (vor 5 Tagen). Die Folge dieses offenes Hasses: 1 Toter und ein Warnung für Schweizer beim Besuch von Deutschland!!!
Wer die Gedanken von Herfried Münkler zusammenfassend lies und diese auch zusammenfassen kann, der wird feststellen, dass viele Unwägbarkeiten aus der damaligen Sicht berücksichtigt wurden (nochmal jede Mutmaßung nur eine ungesicherte Mutmaßung bei einem extrem komplexen Thema sein kann) und sich die Entwicklung hin zu einem unsolidarischen Europa nicht vorhersehen lies.
Viele Europäer betrachten die Flüchtlinge von einem hohen Podest aus, welches ihnen den menschlichen Bezug zu den flüchtenden Menschen nimmt und Mitgefühl auf ein Minimum reduziert. Gut, ich bin auch dafür, dass Deutschland deutsch bleibt. Nur diese Bedingungen, die wir hier für eine mittelalterliche und dementsprechend primitiv agierende Religion geschaffen haben mit Lehrstühlen in Münster für Islamische Religionspädagogik, die schreit zum Himmel und ist der Nährboden für rechtes Gedankenschlecht. (Gedankengut wäre das falsche Wort)
Wer aggressiven Religionen erlaubt sich hier auszuleben, der muss dann auch mit den unangenehmen Konsequenzen umgehen.
Wer Religionen generell erlaubt sich auszuleben, der schürt Konflikt und Kriege. Siehe nur hier in Europa Irland. Jeglicher Glaube schürt Konflikte und Kriege. Die meisten Toten auf diesem Planeten Erde sind dem Glauben geschuldet. Bitte schwört jeglichem Glauben ab!
Wer das nicht verstehen will, der lese sich durch:
- "Andauernder Wahnsinn Glaube" und
- "Der Glaube ist das allergrößte Problem der Menschen"
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Jetzt meine Sicht auf die Zustände im Jahr 2015:
Es ist leicht und äußerst wohlfeil zu behaupten, dass Grenzschließungen (Beispiel zwischen Deutschland und Österreich) geholfen hätten. Wer ist so einfältig zu behaupten, das die die Probleme gelöst hätte? Es sind doch keine 800.000 Menschen, noch nicht mal 50.000 an irgend einer Grenze aufzuhalten. Menschen, die dem Krieg und dem Terror in Syrien entkommen sind, die lassen sich doch von nichts mehr aufhalten oder abschrecken.
Gut, wir können heute, 2 1/2 Jahre später alle denkbaren Szenarien für 2015 durchdenken, nur es werden letztendlich auch nur Mutmaßungen dabei herauskommen. Es gäbe dann CDU-Mutmaßungen, CSU-Mutmaßungen, SPD-Mutmaßungen, GRÜNE-Mutmaßungen, AfD-Mutmaßungen, FDP-Mutmaßungen, u.s.w., u.s.w., nur das brächte uns nicht weiter, da JEDER anders mutmaßt und JEDER sich die Mutmaßung raussucht, die seiner Erwartungshaltung am Nächsten kommt.
2015 sagte ich schon in meinem näheren Umfeld: Schicke mal gedanklich 800.000 Deutsche, die vor Terror und Krieg fliehen, auf die Reise Richtung Süden. Unter diesen 800.000 Deutschen sind ähnlich viele Verbrecher, die in den Zufluchtsländern weiter ihr Unwesen treiben werden. Trotzdem dürfte jeder "normale " Deutsche heilfroh sein, wenn ihm geholfen wird.
Dann empfahl ich noch denjenigen, die immer noch unbelehrbar schienen, diese in Syrien abzusetzen und eigene Erfahrungen beim Flüchten vor Mord, Totschlag, Verfolgung und Vergewaltigung zu sammeln. Diese Unbelehrbaren wären wahrscheinlich diejenigen gewesen, die zuerst geflüchtet wären.